Seit April 2015 beurteilt eine anonyme Gruppe von (wahrscheinlich) Studierenden die Vorlesungen von Herfried Münkler, Professor für „Theorie der Politik“ an der Berliner Humboldt-Universität. Dieser Blog Münkler-Watch möchte „gegen den Extremismus der Mitte“ vorgehen. Die Kritik baut auf der Annahme, dass die Mitte der Gesellschaft zunehmend moralisch verrohe – und dass Professor Münkler durch seine Publikationen diesem Verfall Vorschub leiste. Im Blog werden Äußerungen des Professors während der Vorlesung kritisiert, wenn sie diese Gesinnungsvermutung zu belegen scheinen. Aussagen und Kritik erfolgen in einer Assymetrie – durch den Professor mündlich im Hörsaal, durch die anonymen Kritiker schriftlich im Internet. Ist das nun ein gutes Beispiel für den „offenen Diskurs“? Die Studierenden sehen das zumindest so, da sie angeben, lediglich von ihrem Recht zur freien Meinungsäußerung Gebrauch zu machen. Die Auseinandersetzung bleibt auf Worte und Argumente begrenzt, es ist keine übergeordnete Autorität beteiligt.
Friederike Haupt fragte Mitte Mai in der FAZ , nach der Wirkung des anonymen Zorns auf eine Universität. In dem Artikel werden andere Professoren zitiert, die auch schon im Fadenkreuz der selbsternannten Gesinnungswächter gekommen sind. Die Atmosphäre ist vergiftet. In der Berliner Zeitung äußerte sich Ende Mai schließlich Jan-Hendrik Olbertz zu den „schnellen Urteilen in digitalen Zeiten“. Als Präsident der Humboldt-Universität nahm er „seine“ Professoren in Schutz gegen die Angriffe. Durch die Forderung nach radikaler Transparenz sah er „die produktive Unbefangenheit in der Begegnung von Lehrenden und Studierenden“ zerstört. Ihm antwortete die Gruppe IYSSE im Internet, deren Autoren den Schutz der Anonymität vorziehen, „gegen die politische Gleichschaltung der Humboldt-Universität“. In dem Text der linksgerichteten Gruppierung (wahrscheinlich junger Menschen) wird der offene Diskurs von der Universität eingefordert. Aus dieser Sicht übten die Autoren des MünklerWatch lediglich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung aus.
Der Aufruf an „Studierende, Arbeiterinnen und Arbeiter in ganz Deutschland und weltweit“ erinnert an die Semantik der deutschen Studentenrevolte. In ihrer Selbststilisierung als sozialistische Avantgarde der Gesellschaft wollten die linken Studierenden nach 1968 es nicht wahrhaben, dass ihre privilegierten Interessen und die „der Arbeiter“ sehr weit voneinander entfernt lagen. Die Beurteilung der Professoren soll Teil eines politischen Engagement sein, das primär nichts mit der Universität zu tun hat. Herfried Münkler und die anderen „beurteilten“ Professoren werden als Vertreter einer anderen Position gesehen, gegen die mit allen Waffen gekämpft werden muss.
Moralische Bekenntnisse sind noch keine inhaltlichen Argumente. Die anonymen Autoren sehen sich als Speerspitze jener Studierenden, „die nicht bereit sind, die Militarisierung der deutschen Außenpolitik, die Gleichschaltung der Humboldt-Universität und eine Kultur des Duckmäusertums hinzunehmen.“ Die klare Positionierung ist nicht unsympathisch und in der Tat ist das Internet ja ein geeigneter Ort für Beiträge eines „herrschaftsfreien Diskurs“. Tatsächlich aber ist genau die moralische Positionierung der Denkfehler des Extrems: Die Gegenmeinung wird im Grundsatz schon stigmatisiert. Durch das Paradigma eines Freund-Feind-Schemas kommt es zu keinem Austausch von Argumenten, sondern zu Angriffen.
Eine Universität ist keine „absolute Organisation“: die vielfältigen Meinungen und Aktivitäten der Akteure lassen sich schwer unter einen Hut bekommen. Für die Studierenden ist die Universität aber vor allem eine Einrichtung, die das Lernen zu organisieren und zu garantieren hat. Dieses Lernverhältnis lebt von einer klaren Hierarchie, die etwa im Haus- und Prüfungsrecht besteht. Zum Erlernen der diskursiven Fähigkeiten wird den Studierenden eine „fingierte Mündigkeit“ (Habermas) zugestanden. Studierende sowie Professoren benötigen den Schutzraum für noch ungefasste Meinungen und noch nicht durchdachte Theorien. Wissenschaftler stellen sich durch Aufsätze dem Diskurs, während die Ideen im Maschinenraum der Universität erst entstehen. Die Lernenden dürfen versuchen und Fehler machen, die im geschützten Raum eines Seminars oder Labors bleiben.
In der Universität werden eben nicht nur aktuelle Debatten geführt, sondern es soll auch an ihnen die Kriterien der Wissenschaftlichkeit erlernt werden. Strenge Aufnahmeverfahren machen es den Studierenden vielleicht bewusster, dass die Universität kein „Marktplatz“ der öffentlichen Meinung ist. Die amerikanischen oder französischen Spitzenuniversitäten sind Orte einer Leistungselite, die um das Privileg des Lernens und der späteren Berufswege weiß. Mit guten Gründen haben wir uns in Deutschland für eine Offenheit und Heterogenität des Hochschulzugangs entschieden. Diese Entscheidung für eine demokratische Offenheit verpflichtet aber zu einer umso strengeren Definition, was Universität eigentlich bedeuten soll. Die von Olbertz geforderten Voraussetzungen „Respekt und Vertrauen“ sind keine netten Gesten, sondern die Basis der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Es ist Aufgabe der Universität, diesen Schutzraum zu schaffen und zu schützen. Dabei darf die Universität ihre Angehörigen nicht auf Gesinnung verpflichten, aber auf die Einhaltung der Regeln einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Auf die Einhaltung dieser Regeln muss sie pochen, im Extremfall auch mit rechtlichen und administrativen Mitteln.
Den Studierenden kann man raten, ihre Positionen in die tatsächlichen politischen Auseinandersetzungen der Demokratie einzubringen. Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen freuen sich über tatkräftige Mitarbeiter. Im demokratischen Prozess kann man den Umgang mit anderen Ansichten und die Grenzen des Machbaren erlernen. Die Universität ist der falsche Ort dafür, übrigens auch in den Gremien ihrer Verwaltung. Das Abarbeiten an den eigenen Professoren offenbart eine beschränkte Sicht, die die Universität für die ganze Welt hält. Wenn die engagierten Studierenden die genannten “Arbeiterinnen und Arbeiter” mal befragten, würde sie womöglich andere Sichtweisen kennenlernen: auf die Einrichtung Hochschule und auf den paternalistischen Solidaritätsaufruf. Womöglich ist der ganze Konflikt aus der Sicht von berufstätigen und in der Welt stehenden Menschen eine Sandkastenposse: Das (gefühlt ohnmächtige) Kind bewirft den Vater (die einzig bekannte und allmächtige Autorität) mit Sandkastenförmchen (Erlebnishorizont).