Hochschulmanagement: Ende aller Kreativität

In der Zeit 24/2015 berichten Wissenschaftler aus der universitären Praxis in Deutschland: Die Klagen der Forscher sind authentisch, da sie von ihrer jeweiligen Forschung berichten – und der Behinderung durch die Managementmethoden des Hochschulwesens. Die Klagelitanai hat unterschiedliche Schwerpunkte: Die Verhinderung freier Forschung durch das Antragswesen, die Leistungsbeurteilung des Personals, das Prekariat des Nachwuchses.

Hier sei besonders auf das Problem der Lehre hingewiesen. Bernhard Dick, Niko Ernsting und Marc Reimann kritisieren die Modulasierung der Lehre: “Die Regeln dazu entstammen der irrwitzigen Vorstellung, dass Inhalte beliebig austauschbar und alle Fächer gleich wären.” Die drei Chemiker sehen den Lernprozess eines miteinander verbundenen Wissens durch die kurzen Sequenzen der Lehreinheiten und Prüfungen nicht mehr gewährleistet. Die Studenten nämlich verstünden schnell die Anforderungen der engen Prüfungsordnungen und richteten sich danach. Insbesondere in den MA-Studiengängen sei so die schöpferische Freiheit kaum mehr möglich: “Welchen Vorteil hat unsere Gesellschaft von einer solchen Ausbildung? Verlieren unsere Universitäten dadurch nicht die Fähigkeit, Talente zu wecken und zu fördern?”

Zukunft der Arbeit? Nur Digital?

Das deutsche Bundesministerium für Arbeit und Soziales fragt Jedermann im Internet: Wie sieht die Zukunft der Arbeit aus?
Welche Rahmenbedingungen wollen wir gestalten? Welche Erwartungen haben Sie an die Arbeit der Zukunft?
Die Website selbst schon ist ein Ausdruck für den Wunsch, die neuen Technologien auch zu nutzen. Ohne Hierarchien soll es hier um Ideen und Argumente gehen. Eine schöne Idee und ein glänzendes Äußeres. In einem ersten Grünbuch hat das Ministerium im April 2015 erste Überlegungen vorgestellt.

Bedeutet Arbeiten 4.0 eigentlich immer Digitalisierung? Die Schnelligkeit und Einfachheit der Kommunikation ermöglicht längst eine alltägliche Arbeitspraxis vieler Menschen. Neue Geschäftsmodelle bauen oft auf technologischen Innovationen. Andererseits sind es immer noch chinesische Dockarbeiter und vietnamesische Näherinnen, die die globale Wirtschaft ermöglichen. Es geht also in Teilen eher um die glatte Oberfläche der Arbeitswelt. Die Vermutung, dass sich die technologische Entwicklung beschleunigt und immer weitere Möglichkeiten hinzu kommen, ist sicher nicht ganz falsch. Bei aller Euphorie für hierarchiefreie Kommunikation und weltweite Reichweite muss gefragt werden: Wer entscheidet? Und wer ist verantwortlich?

Und damit sind wir wieder bei den Fragen der Wissenschaft: Das ist der Grund, warum es immer noch Gatekeeper bedarf: Verlage, anerkannte Medien, Professorentitel. Und wir brauchen staatliche Institutionen, die die Freiheiten der neuen Technologien garantieren.  Ohne die Kraft echter technologischer Innovationen zu bezweifeln: Die neuen Medien sind oftmals nur neue Kommunikationswege, die die vorhandenen Strukturen effizienter gestalten. In den 1950er Jahren haben Menschen bei Aufsatzwettbewerben noch mitgemacht, heute sollen sie ein im Smartphone sich an die Ministerin äußern.

BMBF: Mehr Forschung an den Fachhochschulen

Die am 18. Juni vorgestellte Initiative Starke Fachhochschulen – Impuls für die Region des deutschen BMBF kann nur begrüßt werden.  Fachhochschulen sind ein Inkubator für die wirtschaftliche Entwicklung in ihrer Region. Eine Förderung der Forschung wirbt auch in den FHs für “Bildung durch Wissenschaft”. Dies ist auch kein Widerspruch zur Praxisorientierung der Fachhochschulen: Die nachprüfbar bessere Anwendbarkeit war in den angewandten Fächern stets das Kriterium der Wissenschaftlichkeit.

Man kann die Initiative aber auch kritischer sehen: Die Förderung der Fachhochschulen und die Erteilung etwa des Promotionsrechts entwerten das forschungsorientierte Profil der Universitäten. Diese wiederum bieten seit Jahrzehnten auch Studiengänge und Weiterbildungen, in denen von der Idee des gemeinsamen Forschens nichts übrig geblieben ist. Deshalb sollte mit der Initiative zur Stärkung der Fachhochschulen auch eine Verpflichtung auf eine an dieser Forschung ausgerichteten Lehre verbunden sein.
Eine “reine” Forschungsorientierung der FHs würde nämlich die Fachhochschulen dorthin bringen, wo die Universitäten sich schon befinden: eine nur lockere Verbindung der Spitzenforschung mit gigantischen Drittmitteln und dem Durchwursteln in der Lehre.

Wahrheit: Waffe des Westens

Die westliche Welt steht für Aufklärung und Wahrheit! Womöglich ist dies vielen Menschen nicht bewusst, die in dem Schutzraum der westlichen Demokratien leben. Nein: Grenzen töten eben nicht, wie die Demonstranten gegen die EU-Flüchtlingspolitik glauben machen wollen. Grenzen geben einen Rahmen, ohne den der Raum der Freiheit und des Rechts nicht möglich sind. Über die Durchlässigkeit und den Weg der Grenzüberschreitung darf gestritten werden. “Über Grenzen” hatte Ralf Dahrendorf seine Lebenserinnerungen überschrieben: Er sprach sich für Grenzen der Länder und der Wissenschaften aus, überschritt diese dann aber federleicht.

Scheinbar werden die EU-Außengrenzen immer weniger als die Garanten von Freiheit und Recht angesehen. In russischen Medien erscheint die EU als ein Machtblock, der die Nachbarn mit hegemonialer Geste gewaltsam zu integrieren sucht. Die aktuelle russische Regierung scheint sich dem Kampf gegen diesen Hegemon verschrieben zu haben – über die Motive lässt sich spekulieren: Persönliche Kränkungen oder Ablenkung innenpolitischen Versagens? Durch die Instrumentalisierung weisungsgebundener oder -höriger Medien scheint im Land eine Mobilisierung gegen „den Westen“ stattzufinden. Die russische Regierung sieht sich selbst in einem Szenario von Aufrüstung und militärischer Gefahr. Entsprechend ist die Drohkulisse  gegen unmittelbare Nachbarstaaten.

Wie können die Länder des Westens auf eine solche Aggression reagieren? Ben Hodges, der Oberkommandant der US-Streitkräfte in Europa, gibt im heutigen Standard eine eindeutige Antwort: Echte Information sind der beste Weg, um im neuen Hybridkrieg zu bestehen. Hodges erkennt hinter der russischen Propaganda eine gezielte Strategie, die NATO durch Fehlinformationen zu destabilisieren: „Die Menge an Geld, die Russland in Medien in Europa investiert. Russia Today gibt etwa riesige Summen in Deutschland aus, aber auch in Italien. Das ist der Hybridkrieg: Es wird keine lange Kolonne russischer Panzer geben, die ein Land überfallen. Es geht darum, die Temperatur knapp unter 100 Grad zu halten. Das Recht zu verdrehen, Informationen zu verbreiten, Zweifel zu nähren.“ Ein zaghafter Versuch der EU-Staaten, auf die Aggression aus dem Osten überhaupt zu reagieren, werden vom russischen Außenministerium und „ihren“ Medien höhnisch kommentiert.

Wie kann – muß – die westliche Welt darauf reagieren? Durch die Macht der Wahrheit! Allein schon durch die demokratische Praxis sind die Staaten dazu gezwungen, so Hodges: „Die Russen stehen nicht unter der Last, die Wahrheit sagen zu müssen. Aber jeder Staatenlenker im Westen muss damit rechnen, dass die Medien oder das Parlament ihm widersprechen.“ Tatsächlich ist mit Desinformation und Gegendesinformation nichts zu gewinnen. In Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen, die von Mehrheiten getragen werden liegt die Stärke des Westens. Die Grenzen Europas garantieren diesen Glauben an die Kraft der Wahrheit durch transparente Argumente .  Die Krise ermahnt alle Europäer, sich dieses Erbes bewusst zu werden, das in der Welt nicht selbstverständlich ist.

Raum für Ambivalenzen

Am Beispiel der Universität beschreibt Marko Martin in einem Welt-Kommentar die Ambivalenzen des Lebens: “Karrieren sind wie das Leben – kaum zu planen!” Die angeführten Biografien von Prominenten belegen, dass die schwarz-weiß Beurteilung von Menschen und ihrer Lebenswege nie gerechtfertigt ist. Besonders eindrucksvoll ist die beschriebene Demaskierung eines ideologischen Exzesses durch ein Kind. Demonstrierende Studierende drangen in das Seminar des als reaktionär kritisierten Arnulf Baring ein, der dorthin seinen kleinen Sohn mitgebracht hatte. Die reale Erscheinung  kindlicher Unvoreingenommenheit auf die Welt lässt die Demonstrierenden straucheln. Nur der Anführer bellt alleine weiter seine Parolen gegen den Professor in das Megafon. Der Autor sinniert, wohin das Leben diesen Menschen später wohl gebracht hat.

Der Artikel beantwortete die Frage, ob die Hochschulen “nur Horte von PC-Terror und neoliberalem Anpassungsdruck” sind, mit Beispielen: Jeder historische Blick belege doch, das das Leben nie so linear verlaufe, wie gedacht. Und auch ein Lernprozess lässt sich nicht linear abbilden.  “Bildung durch Wissenschaft” bedeutet: Zulassen von Ambivalenz und Diskussion. Und das Schätzen des Gegenargumentes, schrulliger Individuen und versponnener Ideen. Diese – an sich banale – Erkenntnis scheint aber mitnichten in die Organisationspraxis der Hochschulen einzufließen. Die Hoffnung auf Skaleneffekte macht die Hochschulen vielmehr zu gigantischen Maschinen der Vermittlung linear-positivistischen Wissens . Großzügigkeit und Fehlertoleranz scheint da kaum vorgesehen.

Drastisch zeigt sich das auch in der “Hexenverbrennung” des Medizin-Nobelpreisträgers Sir Tim Hunt. Eine unbedachte Äußerung über Frauen führte unmittelbar zum Verlust seiner Ehrenämter und Mitgliedschaften in Hochschule und Akademie. So unverzeihlich scheint der diskrimirende Kommentar Sir Tims, dass seine wissenschaftlichen Leistungen auch nichts mehr Wert zu seinen scheinen. Gegenstimmen gegen diese  sind kaum zu hören: Zu stark scheint das moralische Recht. Der Vorgang ist erschreckend: Er zeigt, dass es mit dem Wissen um die Ambivalenzen des Lebens nicht weit her ist. Jedem Mensch muss eine Fehlertoleranz gegönnt sein; auch in Fragen, die eine Mehrzahl der Menschen für sich moralisch eindeutig beantwortet hat. Der Rechtsstaat garantiert, dass über Bürger nach gleichen Gesetzen und Verfahrensregeln geurteilt wird. Weltanschauliche Diskurse werden mit harten Bandagen geführt, doch wünscht man sich genau die gleichen rechtsstaatlichen Grundsätze auch im Diskurs. Das Prinzip “Wissenschaft” soll den freien Austausch von Argumenten garantieren. Jegliche moralisch aufgeladene Verurteilung des Anderen gefährdet diese Idee.

Österreich: Arbeitsbeschränkungen für ausländische Absolventen

In der Wiener Zeitung kann man von der sozialen Durchlässigkeit des österreichischen Hochschulwesens lesen: Nur ein Drittel der Studenten in Österreich haben Akademiker als Eltern. Im Vergleich liege dieser Wert in Deutschland und Dänemark über der 70-Prozent-Marke. Sagen die Zahlen etwas über die institutionelle Gerechtigkeit aus oder über die Zähigkeit der Bindung an soziale Milieus in Österreich, die sich nun erst vergleichsweise spät  aufbrechen?  Die Zahlen stammen aus dem Eurostudent Report des HIS, dessen Lektüre in vielen anderen Bereichen aufschlussreich ist.

Bezüglich der internationalen Mobilität beziehungsweise der Studierenden mit Migrationshintergrund sind die Daten von besonderem Interesse, da sich an den Zahlen die Internationalisierungsstrategie von Hochschulen und der Republik ablesen lässt. 6.7 Prozent der Österreichischen Studierenden stammen aus dem Ausland; 9.8 Prozent sind die Kinder von Ausländern, die in Österreich leben. Für sich sagen die Zahlen wenig aus, da sie nicht zwischen EU- und Nicht-EU-Ausländern trennen; sowie nicht die sprachlichen Fähigkeiten abfragen, die etwa Deutsche selbstverständlich erfüllen sollten. Im weltweiten Vergleich ist Österreich eines der Länder mit dem höchsten Anteil an internationalen Studierenden. Aus dem Vierten Bericht des Beauftragten der Stadt Wien für Universitäten und Forschung geht hervor, dass sich die Internationalisierung vor allem bei den Studierenden der Wiener Universitäten zeigt. Ein Viertel der Studierenden hat eine ausländische Staatsbürgerschaft. Der Großteil der internationalen Studierenden in Wien stammt aus Deutschland und Südosteuropa. Weltweit wuchs die internationale Mobilität vor allem durch asiatische Studierende, die außer an die renommierten Kunsthochschulen kaum nach Wien kommen. Im Times Higher Education World University Rankings 2014-2015 wird die Universität Wien auf Platz 13 der Hochschulen mit dem höchsten Internationalisierungsgrad geführt.

Der Wiener Universitätsbeauftragte Alexander Van der Bellen wirbt für Weltoffenheit und Toleranz des österreichischen Hochschulsystems. Diese dürfe aber nicht mit dem Abschluss des Studiums enden. Im “Ceterum censeo” seines Berichts 2015 (S. 62ff) kritisiert Van der Bellen das österreichische Fremdenrecht scharf. Selbst Ausländer mit einem erfolgreichen österreichischen Hochschulabschluss werden beim Eintritt in den Arbeitsmarkt behindert. Die Folgen seien ein Paradoxen: Aus Steuermitteln Österreich finanziere den internationalen Studierenden das Studium und verabschiede sie, bevor sie die Kosten für das Studium über eine Erwerbstätigkeit und die damit verbundene Steuerleistung zurückzahlen können. Volkswirtschaftlich gesehen sei die Praxis unsinnig. Als positive Gegenbeispiel verweist der Bericht auf die deutsche Praxis des Umgangs mit inländischen Absolventen ausländischer Herkunft, die wesentlich längere Zeiten der Arbeitssuche gewähren. Die mit der Exekution des Bleibe- und Aufenthaltsrechts befassten Stellen werden stetig ausgebaut, wogegen Van der Bellen eindeutig protestiert: “Das Gesetz gehört geändert, der Unsinn beendet. “

Grexit: Ende des unbefangenen Arguments

Heute morgen die Nachricht, dass der griechische Staatsbankrott immer wahrscheinlicher wird. Die Regierung hangelt sich schon seit Wochen von einer Umschuldungs-Deadline zur nächsten. Andere Euro-Staaten bereiten sich auf den „Grexit“, den Austritt Griechenlands aus der Währungsunion, vor. Die Schuldfrage scheint eindeutig: Verantwortungslose Eliten haben über Jahrzehnte ihre Klientelbeziehungen mit geliehenem Geld finanziert; die Investitionen in eine moderne Wirtschaft wurden vom Staat nicht gemacht. Die Griechen haben damals diese Eliten gewählt; ebenso wie sie nun die Links-Regierung gewählt haben, die mit populistischen Sprüchen die Konzeptlosigkeit bezüglich ihrer Staatskrise überspielt. Das Vertrauen so gut wie aller internationalen Partner wurde durch taktische Spielchen so beschädigt, dass keine Zusammenarbeit mehr möglich scheint. Die privaten Rating-Agenturen haben die Staatsanleihen jetzt schon im niedrigsten Ramsch-Niveau eingestuft.

Die Folgen eines Grexit für Europa wären jenseits der eigentlichen Wirtschaftspolitik verheerend. Der Diskurs einer freien Gesellschaft lebt von selbstbewussten Akteuren. Der Grexit bedeutet in Griechenland auch den Totalverlust aller Sparvermögen: Ohne eigene finanzielle Basis geraten die Bürger noch mehr in den Strudel von Abhängigkeiten. Mag der Klientelismus in Griechenland (negative) Tradition haben, wird sie durch den Vermögensverlust nur noch beschleunigt. Nach dem Erlebnis eines Verlustes alles Geldvermögen sind manche politische Maßnahmen einfach nicht mehr durchführbar. Auch in Deutschland etwa ist die wirtschaftspolitische Stellschraube der Inflation kaum anwendbar, da es die kollektive Erinnerungen an die Währungsverluste von 1929 und 1948 noch gibt. Auch das aktuelle russische Beispiel könnte als Beleg für die These genannt werden. Mag die Wirtschaft sich in den 15 Jahren nach dem Währungssturz von 1998 erholt haben – die Menschen haben es scheinbar nicht. Der Putinismus bedient die zwei Fallen für eine solche Gesellschaft, der es an finanziell eigenständigen Akteuren mangelt:

  1. Eine wirtschaftliche Abhängigkeit durch die Verteilung der Gelder von oben, die das Volks zu Rentenempfängern macht. Die fehlende Diversifizierung der Wirtschaft angesichts der großen Gewinne staatlicher Unternehmen aus dem Verkauf von Öl und Gas sind ein eindeutiges Indiz.
  2. Die Anfälligkeit für politische Heilsversprechen und das Bild eines Feind, der von Außen kommt. Die prekäre Situation großer Bevölkerungsteile macht es leicht, historische Referenzen besserer Zeiten umzudeuten und zu instrumentalisieren. Der russische Nationalismus passt kaum zum Geist des Vielvölkerstaates Sowjetunion, der Vergleich zum Feindesdenken während der strauchelnden Weimarer Republik drängt sich aber auf.

Die Universitäten Griechenlands folgen einem Freiheitsnarrativ, aus dem auch Widerstand gegen die Militärdiktatur entstanden ist. Ob angesichts existentieller Erfahrungen überhaupt noch Debatten über die besseren Konzepte geführt werden? Erst der Vermögensverlust aller Sparvermögen in Griechenland ist die mentale Katastrophe. Historische Erfahrungen in anderen Ländern lassen es als nicht wahrscheinlich erscheinen, dass einem solchen Schock eine nüchterne Aufarbeitung der hausgemachten Ursachen folgen würde. So wie die Parteien der Weimarer Republik sich in der Ablehnung des Vertrages von Versailles einig waren, sind es die Griechen in der Beurteilung „der Troika“. Der Grexit wäre über Jahrzehnte eine Katastrophe für das nüchterne und unbefangene Argument.

Einfühlen in andere Generationserfahrungen

Unter dem eher paradigmatischen Titel Junge Ostdeutsche fordern Weltoffenheit und Toleranz diskutierten Experten im Deutschlandfunk über die spezifischen Erfahrungen der Ostdeutschen: die Erfahrungen eines fundamentalen Wandels nach 1989, die Ängste um den Arbeitsplatz und vor Ausländern. Dabei war auch ein Vertreter des Netzwerks Dritte Generation Ost von Wendekindern. Der Zusammenschluss versucht, die Wandelerfahrung der eigenen Generation zu verstehen und zu kommunizieren.

Bemerkenswert finde ich zwei Hinweise von Frank Richter, dem Leiters der sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung. 1.) Zum einen wies er darauf  hin, dass er mit den Menschen arbeite, wie sie eben da seien; 2.) zum anderem warb er bei den Jüngeren für ein Verständnis der Motive einer älteren Generation. Beide Bemerkungen weisen auf die Prinzipien einer offenen Gesellschaft hin. Ein Diskurs ist nur möglich, wenn wir eine gemeinsame Sprache mit dem Gegenüber finden:

  1. Richter war ja selbst in die Kritik gekommen, da er in seiner Landeszentrale den Anhängern von Pegida die Möglichkeit zum öffentlichen Auftritt gegeben hatte. Doch da hat er genau richtig gehandelt: Das Werben um Toleranz und Respekt darf nicht durch die Ausgrenzung der unmöglichen Anderen konterkariert werden. Nur so kann ein Austausch entstehen und die Sprachlosigkeit überwunden werden. Der Mut zu Veranstaltung führte zu greifbaren Ergebnissen.
  2. Empathie für die biographische Prägung des Anderen ist eine Forderung, die noch darüber hinaus geht. Es kommt eben nicht nur auf den Austausch von Argumenten an, sondern auch auf das Verstehen, auf welchem paradigmatischen Boden diese Perspektiven überhaupt entstanden sind. Die Sozialisation in einer Diktatur und das Erlebnis des Wandels sind eben nicht nur ein Untersuchungsgegenstand von Soziologen. Der Austausch zwischen den Generationen wird erst möglich, wenn die emotionalen Vorbedingungen der Menschen verstanden werden. Wissenschaftliche Nüchternheit umfasst auch die emotionale Intelligenz.

Universität für Flüchtlinge

Eine „offene Hochschule“ möchte den Unterprivilegierten formale Hochschulbildung zugänglich zu machen. Die Projekte des gleichnamigen Wettbewerbs des deutschen Bundesbildungsministeriums bewegen sich allerdings in den rechtlich-formalen Bedingungen der vorhandenen Einrichtungen. Angesichts des Studiengebührenverbots für das Grundstudium werden mit Fern- und Teilzeitstudienangeboten eher sogar Hoffnungen auf zusätzliche Einnahmemöglichkeiten verbunden. Die deutschen Hochschulen scheinen Welten entfernt von der Vision, die amerikanische Hochschullehrern bei einer Berliner Tagung des CHE 2013 äußerten. Über einen Beitrag bei Deutschlandfunk hörte ich nun erstmals von der in diesem Jahr gegründeten Wings University für Flüchtlinge. Diese virtuelle Hochschule möchte Bildung ermöglichen für Menschen ohne Papiere oder legalen Aufenthaltsstatus. Unterrichtssprache ist Englisch, angeboten werden sollen die nachgefragten Fächer Architektur, Ingenieurswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und IT.

Hinter dem Projekt stehen Berliner Studenten, die sich um Geld, ehrenamtliche (Online-)Dozenten und Partneruniversitäten bemühen. Alle drei Dimensionen sind heikel, auch da der Wert des Abschlusses im Vergleich mit „regulären“ Hochschulzertifikaten noch nicht klar ist. Sensationell sind aber die Erfahrungen, die der Jesuitenflüchtlingsdienst mit seiner Online-Universität in Flüchtlingslagern macht. Mit ihrer jahrzehntelangen Erfahrung im Schulwesen für Flüchtlinge in vielfältigen Projekten wagten sich die Jesuiten 2010 an dieses Experiment. Die Schaffung einer Basis-Infrastruktur war schon eine gigantische Leistung. Das Flüchtlingslager von Kakuma liegt im Norden Kenias mitten in der Wüste, so dass Computer nur in geschlossen und vollklimatisierten Räumen betrieben werden können. Diese Computer sind der Draht zur Welt. Eine dringend benötigte Berufsbildung war in dem Lager etwa nicht möglich, da vor Ort Werkzeuge und Material fehlten.

Hinter der Online-Universität Jesuit Commons: Higher Education at the Margins stehen die amerikanischen Jesuitenuniversitäten: Bewerben müssen die gleichen Aufnahmetests wie in den USA bestehen; die Qualität des Online-Abschluss wird von den Universitäten garantiert. Im September 2013 konnten die ersten 48 Absolventen in Kenya and Malawi ihre Online-Abschlüsse im Fach „Liberal Studies“ entgegen nehmen. Die Zahl mag gering erscheinen angesichts der mehr als 100.000 Menschen allein im Flüchtlingslager Kakuma. Obgleich die Kapazitäten begrenzt sind und nicht alle kognitiv in der Lage sind, das Angebot zu nutzen: Im Lager hat sich die Existenz der Flüchtlingsuniversität rumgesprochen. Die Flüchtlinge von Kakuma haben einen Grund zur Hoffnung, dass das Lager keine Endstation ist.

Obgleich die Flüchtlinge in Deutschland ungleich sicherere Rahmenbedingungen vorfinden, brauchen sie auch diese Perspektiven. Die Wings University setzt einen Anfang. Es ist zu wünschen, dass sich bald auch in Deutschland führende Universitäten an die Spitze dieser Entwicklung stellen.

Münkler-Watch: Die Sandkastenposse

Seit April 2015 beurteilt eine anonyme Gruppe von (wahrscheinlich) Studierenden die Vorlesungen von Herfried Münkler, Professor für „Theorie der Politik“ an der Berliner Humboldt-Universität. Dieser Blog Münkler-Watch möchte „gegen den Extremismus der Mitte“ vorgehen. Die Kritik baut auf der Annahme, dass die Mitte der Gesellschaft zunehmend moralisch verrohe – und dass Professor Münkler durch seine Publikationen diesem Verfall Vorschub leiste. Im Blog werden Äußerungen des Professors während der Vorlesung kritisiert, wenn sie diese Gesinnungsvermutung zu belegen scheinen. Aussagen und Kritik erfolgen in einer Assymetrie – durch den Professor mündlich im Hörsaal, durch die anonymen Kritiker schriftlich im Internet. Ist das nun ein gutes Beispiel für den „offenen Diskurs“? Die Studierenden sehen das zumindest so, da sie angeben, lediglich von ihrem Recht zur freien Meinungsäußerung Gebrauch zu machen. Die Auseinandersetzung bleibt auf Worte und Argumente begrenzt, es ist keine übergeordnete Autorität beteiligt.

Friederike Haupt fragte Mitte Mai in der FAZ , nach der Wirkung des anonymen Zorns auf eine Universität. In dem Artikel werden andere Professoren zitiert, die auch schon im Fadenkreuz der selbsternannten Gesinnungswächter gekommen sind. Die Atmosphäre ist vergiftet. In der Berliner Zeitung äußerte sich Ende Mai schließlich Jan-Hendrik Olbertz zu den „schnellen Urteilen in digitalen Zeiten“. Als Präsident der Humboldt-Universität nahm er „seine“ Professoren in Schutz gegen die Angriffe. Durch die Forderung nach radikaler Transparenz sah er „die produktive Unbefangenheit in der Begegnung von Lehrenden und Studierenden“ zerstört. Ihm antwortete die Gruppe IYSSE im Internet, deren Autoren den Schutz der Anonymität vorziehen, „gegen die politische Gleichschaltung der Humboldt-Universität“. In dem Text der linksgerichteten Gruppierung (wahrscheinlich junger Menschen) wird der offene Diskurs von der Universität eingefordert. Aus dieser Sicht übten die Autoren des MünklerWatch lediglich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung aus.

Der Aufruf an „Studierende, Arbeiterinnen und Arbeiter in ganz Deutschland und weltweit“ erinnert an die Semantik der deutschen Studentenrevolte. In ihrer Selbststilisierung als sozialistische Avantgarde der Gesellschaft wollten die linken Studierenden nach 1968 es nicht wahrhaben, dass ihre privilegierten Interessen und die „der Arbeiter“ sehr weit voneinander entfernt lagen. Die Beurteilung der Professoren soll Teil eines politischen Engagement sein, das primär nichts mit der Universität zu tun hat. Herfried Münkler und die anderen „beurteilten“ Professoren werden als Vertreter einer anderen Position gesehen, gegen die mit allen Waffen gekämpft werden muss.

Moralische Bekenntnisse sind noch keine inhaltlichen Argumente. Die anonymen Autoren sehen sich als Speerspitze jener Studierenden, „die nicht bereit sind, die Militarisierung der deutschen Außenpolitik, die Gleichschaltung der Humboldt-Universität und eine Kultur des Duckmäusertums hinzunehmen.“ Die klare Positionierung ist nicht unsympathisch und in der Tat ist das Internet ja ein geeigneter Ort für Beiträge eines „herrschaftsfreien Diskurs“. Tatsächlich aber ist genau die moralische Positionierung der Denkfehler des Extrems: Die Gegenmeinung wird im Grundsatz schon stigmatisiert. Durch das Paradigma eines Freund-Feind-Schemas kommt es zu keinem Austausch von Argumenten, sondern zu Angriffen.

Eine Universität ist keine „absolute Organisation“: die vielfältigen Meinungen und Aktivitäten der Akteure lassen sich schwer unter einen Hut bekommen. Für die Studierenden ist die Universität aber vor allem eine Einrichtung, die das Lernen zu organisieren und zu garantieren hat. Dieses Lernverhältnis lebt von einer klaren Hierarchie, die etwa im Haus- und Prüfungsrecht besteht. Zum Erlernen der diskursiven Fähigkeiten wird den Studierenden eine „fingierte Mündigkeit“ (Habermas) zugestanden. Studierende sowie Professoren benötigen den Schutzraum für noch ungefasste Meinungen und noch nicht durchdachte Theorien. Wissenschaftler stellen sich durch Aufsätze dem Diskurs, während die Ideen im Maschinenraum der Universität erst entstehen. Die Lernenden dürfen versuchen und Fehler machen, die im geschützten Raum eines Seminars oder Labors bleiben.

In der Universität werden eben nicht nur aktuelle Debatten geführt, sondern es soll auch an ihnen die Kriterien der Wissenschaftlichkeit erlernt werden. Strenge Aufnahmeverfahren machen es den Studierenden vielleicht bewusster, dass die Universität kein „Marktplatz“ der öffentlichen Meinung ist. Die amerikanischen oder französischen Spitzenuniversitäten sind Orte einer Leistungselite, die um das Privileg des Lernens und der späteren Berufswege weiß. Mit guten Gründen haben wir uns in Deutschland für eine Offenheit und Heterogenität des Hochschulzugangs entschieden. Diese Entscheidung für eine demokratische Offenheit verpflichtet aber zu einer umso strengeren Definition, was Universität eigentlich bedeuten soll. Die von Olbertz geforderten Voraussetzungen „Respekt und Vertrauen“ sind keine netten Gesten, sondern die Basis der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Es ist Aufgabe der Universität, diesen Schutzraum zu schaffen und zu schützen. Dabei darf die Universität ihre Angehörigen nicht auf Gesinnung verpflichten, aber auf die Einhaltung der Regeln einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Auf die Einhaltung dieser Regeln muss sie pochen, im Extremfall auch mit rechtlichen und administrativen Mitteln.

Den Studierenden kann man raten, ihre Positionen in die tatsächlichen politischen Auseinandersetzungen der Demokratie einzubringen. Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen freuen sich über tatkräftige Mitarbeiter. Im demokratischen Prozess kann man den Umgang mit anderen Ansichten und die Grenzen des Machbaren erlernen. Die Universität ist der falsche Ort dafür, übrigens auch in den Gremien ihrer Verwaltung.  Das Abarbeiten an den eigenen Professoren offenbart eine beschränkte Sicht, die die Universität für die ganze Welt hält.  Wenn die engagierten Studierenden die genannten “Arbeiterinnen und Arbeiter” mal befragten, würde sie womöglich andere Sichtweisen kennenlernen: auf die Einrichtung Hochschule und auf den paternalistischen Solidaritätsaufruf. Womöglich ist der ganze Konflikt aus der Sicht von berufstätigen und in der Welt stehenden Menschen eine Sandkastenposse: Das (gefühlt ohnmächtige) Kind bewirft den Vater (die einzig bekannte und allmächtige Autorität) mit Sandkastenförmchen (Erlebnishorizont).